Wanderungen
26.01.2023

Zum Internationalen Tag des Gedenkens an die Opfer des Holocaust
Im Herbst 2022 erschienen hierzulande zehn Bücher, die sich mit dem deutschen Krisenjahr 1923 auseinandersetzen. Aber mit einer Besonderheit, worauf Gustav Seibt hinweist. Kein einziges Buch erschien in Deutschland zum Jahr der faschistischen Machteroberung in Italien. Mussolinis berüchtigter Marsch auf Rom 1922, den Seibt eher als läppische Drohkulisse gegenüber König und Parlament ansieht, um legalistisch oder zumindest ohne offene Gewaltanwendung an die Macht zu kommen, enthält bereits alle Ingredienzien heutiger rechtsextremer Politik. Dieser Marsch diente nicht nur Adolf Hitler und einer von ihm gegründeten rechtsextremistischen Splitterpartei als Inspiration für seinen obskuren Marsch auf Berlin, der als Hitlerputsch vor der Feldherrnhalle in München endete. Mussolinis Marsch auf Rom ist noch heute Lehrstück und Blaupause aller antiliberalen und rechtsextremen Gruppierungen und geht so: Ein Teil der Bevölkerung wird als das Volk stilisiert, der als Bewegung die wahren Interessen aller gegenüber den bisher legitimen und legitimierten demokratischen Institutionen, freien Medien und deren vorgeblichen Finanziers durchsetzt. Dazu gehören Feindbilder, Krise und Desinformation. Letzteres ist Handwerk, Ersteres wird herbeigeredet. Demokratisch legitimierte Institutionen werden nicht zerstört, es gibt keine „klassische“ Revolution, sondern eine auf Dauer angelegte „sanfte“ Aushöhlung, Anverwandlung oder Paralyse dieser Institutionen. Ähnlich arbeitet die Mafia, allgemeiner gesagt, Verbrechen, das sich organisiert. Zuerst wird die Justiz lahmgelegt, Richterinnen und Richter verlieren ihre politische Unabhängigkeit, Medien werden durch Gerichtsprozesse oder Gesetzesänderungen „auf Linie“ gebracht oder ausgeschaltet. Es passieren Unfälle, Gelegenheitsmorde. Wirtschaftliche Schlüsselbereiche werden durch die gezielte Vergabe öffentlicher Aufträge an Regierungsentscheidungen gebunden. Das Wahlrecht wird, falls nötig, geändert, der Zugang zu Medien reglementiert. Die öffentliche Debatte wird auf Krawall getrimmt, Probleme bekommen schlichte Ursachen: es sind die anderen. Victor Orbán ist bisher ein Meister in dieser Dramaturgie. Aber es wäre ungerechtfertigt, nur ihn zu nennen. Merkmale dieser Dramaturgie finden sich bei allen politischen Bewegungen und Parteien, die die Merkmale der liberalen Demokratie ablehnen. 2021 gab es den Marsch auf das Capitol in Washington und dessen Erstürmung durch einen präsidial orchestrierten Mob.
„Die Anderen“, und das ist bemerkenswert, sind heute immer noch oder verstärkt wieder – Juden. Ihre Verantwortung für alle Übel der Welt hat Tradition. Hannah Arendt und andere haben darüber berichtet. Die ihnen überantworteten Schuldzuweisungen ließen sich in der Vergangenheit gefahrlos skalieren und immer wieder nutzen, wenn Verantwortliche für Fehlleistungen gebraucht wurden. Das wusste die zaristische Ochrana bestens, die als russischer Geheimdienst die Protokolle der Weisen von Zion lancierte und damit einen Klassiker im Genre Verschwörungsmythos schuf, der bis heute wirkt. Das war deshalb gefahrlos möglich, da es für Juden bis 1948 keine Schutzmacht, keinen Staat gab, der sich für sie einsetzte und, notfalls, mit Gewalt drohen konnte. Ideale Bedingungen also.
Das Jahr 2022 hat eine weitere Besonderheit, die sich nicht im Jahrhundertrückblick erschöpft. In kaum einem anderen Jahr wurde in Deutschland so intensiv über aktuellen Antisemitismus debattiert. Auslöser, Beschleuniger war sicher das Debakel der documenta in Kassel. Aber es gibt weitere Themen, die ebenfalls irritieren. Da sind die harten Auseinandersetzungen zur Entschädigung der Hinterbliebenen der ermordeten jüdischen Sportlerinnen und Sportler bei den Olympischen Spielen 1972 in München durch palästinensische Attentäter. Und das merkwürdige Verhalten der bayrischen Sicherheitsbehörden in den Folgejahren. Da gibt es die Realsatire um den Versuch des hessischen Verfassungsschutzes, 120 Jahre lang die Untersuchungsakten zum NSU unter Verschluss zu halten. Und es gibt die Chatgruppen der Polizei, ebenfalls in Hessen, die offensichtlich rechtsextrem und antisemitisch sind. Das Kommando Spezialkräfte (SEK) in Calw musste 2020 umstrukturiert, der Kommandeur ausgewechselt werden wegen fortgesetzter rechtsextremistischer Rituale.
Es gibt also Gesprächsbedarf und das dringliche Anliegen um (Er)-Klärung. Einige wesentliche Teile der Debatten im Jahr 2022 möchten wir nachzeichnen, denn in einzelnen Beiträgen scheint auf, wie jüdisches Leben in Deutschland gelingt und gelingen kann. Und wodurch Bedrohungen entstehen, die, das muss als Jahrhundertlehrstück begriffen werden, alle angehen, da Angriffe auf Minderheiten nur ein Vorspiel weiterer Zerstörungen sind.
Mit der Meldestelle Antisemitismus, die seit November 2022 online in Baden-Württemberg arbeitet, möchten wir junge Menschen, zivilgesellschaftlich Engagierte und Betroffene ermutigen, jeder Form von Antisemitismus entgegenzutreten und ihre Anliegen mitzuteilen. Das ist ein Meilenstein entlang eines langen Weges zur Stärkung zivilgesellschaftlichen Engagements. Der Dank gilt ausdrücklich dem Land Baden-Württemberg, das diese Meldestelle ermöglicht.
Der lange Weg jedoch, der zur Parlamentarischen Demokratie in Deutschland geführt hat, ist noch lange nicht zu Ende. Diese Demokratie, die dem Land seine bisher besten Jahrzehnte ermöglicht hat, wird immer wieder bedroht sein. Halten die Institutionen und einzelne Menschen diesem Druck stand? Eine Frage, deren Antwort, soviel Ehrlichkeit zur nüchternen Einschätzung dessen, was geschieht, muss sein, nicht eindeutig beantwortet werden kann. Was im Umkehrschluss nichts anderes bedeutet, dass es eine realistische Chance gibt, das bisher Erreichte zu sichern, ja sogar zu verbessern. Dazu benötigen wir auch und vor allem die Unterstützung derjenigen, die bedroht sind. Welcher Art diese Bedrohungen sind, zeichnet die aktuelle Debatte über Antisemitismus in Deutschland prototypisch nach.
Editorial aus der Broschüre DEBATTEN: Antisemitismus in Deutschland